Ukraine vor dem Überfall: Europa als unzugängliche Burg; Russland als missbräuchlicher ex-Partner
Quelle: FB von Oleh Smal: www.facebook.com/olegsmalart |
Die vor dem 24. Februar durch Moskau eingesetzten Mittel sollten bezwecken, dass die Ukraine weiterhin arm, unartig, und somit für die EU nicht akzeptabel bleibt.
Am 24. Februar hat Putin probiert, die Ukraine brutal an sich zu reissen und die EU-Burg zumindest zu erschüttern, oder gar in ihrer Einheit zu zerstören.
Blitzkrieg-Versuch: Fernsehen, Kommunikation, Energie
Die Kriegsplaner aus dem Kreml haben sich den ukrainischen Staat als eine Art Computer-Netzwerk vorgestellt, das schnell umprogrammiert werden könnte, wenn man die richtigen Zugänge bekommt. Offensichtlich musste neben dem Truppeneinmarsch das ukrainische TV- und Mobilfunk-Netzwerk möglichst rasch unter Kontrolle gebracht werden, damit die Russen das Bild in den ukrainischen Fernsehern sowie in den Handys kontrollieren können. Auch die grössten ukrainischen Kraftwerke, v.a. die AKWs, mussten durch Blitzschläge schnell unter Kontrolle gebracht werden, um auch die Stromproduktion in der Ukraine zu kontrollieren.Dank der ukrainischen Cyber-Abwehr sowie dem erbitterten Widerstand der ukrainischen Streitkräfte v.a. bei Kyjiw und Mykolajiw, sind diese Pläne gescheitert.
Als Konsequenz ist die Brutalität der russischen Invasionsarmee nochmals gestiegen: jeder ukrainische Zivilist wurde als potentieller Kombattant angesehen, weil er potenziell die Koordinaten der russischen Soldaten dem ukrainischen Militär übermitteln könnte.
Bei einem modernen Techno-Krieg ist extreme Brutalität kaum vermeidbar: wenn du das "Computer-Netzwerk" des Gegners nicht unter Kontrolle gekriegt hast, musst du dieses Netzwerk zerstören, mit all den brutalen Konsequenzen für die Zivilisten.
Wenn du das Bild auf dem Bildschirm des Ukrainers nicht kontrollierst, musst du ihn töten.
In den Worten mancher russischer Propagandisten: "Die Ukrainer hätten sich einfach ergeben müssen (sprich: sich als Russen "umprogrammieren" lassen), dann wäre alles schnell und fast schmerzlos zu Ende gegangen".
Die Kriegsführung: die Kanonen und Raketen
Die Ukrainer haben nicht nur die ganze Welt, sondern auch sich selber mit ihrem erfolgreichen Widerstand überrascht.Nur waren die ukrainischen Munitionsbestände, insbesondere für die schweren Kanonen, bereits nach den ersten 6 Wochen der Schlachten von Kyjiw, Tschernihiw, Sumy, Charkiw, Mariupol und Mykolajiw fast aufgebraucht.
Seitdem ist die Ukraine sehr stark auf die Waffenlieferungen aus den westlichen Ländern angewiesen. Man wundert sich, wie wenig die meisten dieser reichen Länder auf so einen Krieg vorbereitet waren, dass sie nach einem ganzen Jahr immer noch viel zu wenig Artilleriemunition zu produzieren vermögen. Gut aber, dass die westliche Koalition die nötige Munition in Ländern wie Pakistan und Israel noch finden, aufkaufen und in die Ukraine senden kann.
Die derzeitige Bilanz sieht wie folgt aus: bei der schweren Artillerie, Panzern und allerlei gepanzerten Fahrzeugen sowie Luftabwehrsystemen und Drohnen steht es grob 1 zu 1. Bei den Kampfjets und Hubschraubern, sowie bei den Langstrecken-Raketen hat Russland deutlich die Oberhand. Nur nützen sie angesichts der relativ wirksamen ukrainischen Luftabwehr nicht viel. Dazu kann die Ukraine auf die besseren Kommunikationsmittel zählen, auf bei weitem effektivere westliche Intelligenz- und Aufklärungssysteme, sowie auf HIMARS Kurzstecken-Raketen, die viel präziser als die analogen russischen sind.
Kommen bald die Hunderte von Bradleys und Marder in die Ukraine, könnte die Ukraine einen taktischen Vorteil bekommen und eine neue Befreiungsoffensive starten.
Die Kriegsführung: die Soldaten und das Kanonenfutter
Die Ukraine kann theoretisch bis zu 7 Millionen Menschen für den Krieg mobilisieren, praktisch aber bis zu 1 Million. Diese praktische Limite könnte bald erreicht werden. Nicht jeder Mensch kann ein guter Soldat werden. Und schlechte Soldaten an der Front sind eher ein Hindernis.Russland könnte über 20 Millionen mobilisieren, praktisch aber auch kaum mehr als 1 Million. Das Hauptproblem: bei weitem nicht jeder Russe im Mobilisierungsalter würde freiwillig oder unfreiwillig in einen Krieg ziehen, den er vielleicht passiv sogar unterstützt, praktisch aber für sich selber nicht glaubwürdig erklären kann, wofür er auch noch sein Leben riskieren würde.
Die Kriegsführung: die Propaganda und die IPSO (Informations-psychologische Sonderoperationen)
Wenn man es direkt nicht kontrollieren kann, was auf den Bildschirmen steht, die dein Gegner vor seinen Augen hat, kann man versuchen, dies indirekt zu beeinflussen. Auch die Bildschirme vor den Augen der Menschen in den anderen Länder der Welt sind wichtig.Wolodymyr Selenskyj hat seine Erfahrung als Schauspieler glänzend eingesetzt. Möglicherweise ist er derzeit der einflussreichste Politiker der Welt. Dabei hilft es aber enorm, dass er seine Rolle einfach ehrlich und offen, sowie tapfer spielt.
Wladimir Putin hingegen hat sich selber in ein mieses Dilemma getrieben, aus dem er nicht herauskommen kann: einerseits gibt es offiziell keinen Krieg, sondern "nur" eine "militärische Sonderoperation", andererseits ist er darauf angewiesen, dass die Völker Russlands diese "Sonderoperation" in der Tat als einen "vaterländischen Krieg" führen und sich entsprechend mobilisieren lassen.
Was aber Wladimir Putin nicht vermag, kompensieren für ihn seine TV Propagandisten und die IPSO-Spezialisten. Das klappt erstaunlich gut, aber nur bei einem bestimmten Zielpublikum: v.a. die ältere Generation, insbesondere ältere Frauen, sind die eifrigsten Supporterinnen des Krieges und verlangen vor dem TV-Bildschirm, "ukrainische Nationalisten" zu eliminieren. Glücklicherweise sind das ausgerechnet diejenigen, die kaum aktiv in den Kampf ziehen würden, daher das Defizit beim Kanonenfutter.
Die Kriegsführung: die Wirtschaftsfront
Auf sich alleine gestellt, wäre die Ukraine längst pleite: die Produktion von Stahl hat sich mehr als halbiert, die Landwirtschaftsproduktion droht sich angesichts der andauernden Halbblockade der Schwarzmeereshäfen bald auch zu halbieren, nur der IT Branche geht es einigermassen gut. Sollte der Krieg noch weitere Jahre dauern, schrumpft die ukrainische Wirtschaft bis zum Existenzminimum.Die russische Wirtschaft hat Mitte 2022 dank den sehr hohen Energiepreise und -exporte sogar einen Mini-Aufschwung erlebt. Seit Oktober geht es in Russland aber auch langsam abwärts. Da die Militärausgaben drastisch steigen mussten, wächst das Haushaltsdefizit rasant, und somit wird der Krieg dieses Jahr die letzten russischen Reserven verschlingen. Aber bis Ende 2023 wird es leider voraussichtlich noch reichen.
Das Kriegsende: ein Weg zwischen dem Katastrophalen und dem Grausamen
Es gibt zwei extreme Szenarien, die zu vermeiden sind:- Ein katastrophales, indem der Krieg zu einem nuklearen Armageddon eskaliert;
- Ein grausames, indem die Ukraine zu ungerechten Zugeständnissen gezwungen wird, was zum spektakulären Zusammenbruch der regelbasierten Weltordnung und schliesslich auch zu einem nuklearen Armageddon führen wird.
Die Ukraine bekommt unverzüglich genug militärische Unterstützung, die es ihr erlauben, die Frontlinie im Osten trotz des steigenden russischen Drucks stabil zu halten und gleichzeitig eine strategische Befreiungsoffensive im Süden zu starten.Quelle des Bildes: ISW
www.understandingwar.org- Sobald die ukrainischen Truppen das AKW von Saporischschja gesichert und die Küste des Asowschen Meeres erreicht haben, kann mit der Demilitarisierung der Halbinsel Krim begonnen werden: die russischen Militärstützpunkte dort können mittels Präzisionsschlägen zerstört werden, die Kriegsschiffe der russischen Schwarzmeerflotte müssen mittels Raketen- und Drohnen-Angriffen nach Noworossijsk verjagt werden, damit sie die Schifffahrt an der ukrainischen Schwarzmeeresküste nicht mehr bedrohen können.
- Sobald die russische Führung versteht, dass sie die Krim nicht mehr als einen riesigen Militärstützpunkt nutzen können und als Kurort schon gar nicht mehr, werden sie gezwungen sein, ernsthafte Friedensverhandlungen (z.B. in Jalta) zu führen, wobei diskutiert werden kann, wie die Ukraine die derzeit besetzten Gebiete – sowohl die Krim, als auch den Osten – zurückbekommt und wie die Rechte der dort lebenden russischsprachigen Bevölkerung sichergestellt werden können.
Neutralität und Zögerlichkeit während dem Krieg um die gemeinsamen Werte und Regeln
Nicht nur den Mythos der unbesiegbaren russischen Armee hat dieser Krieg zerstört, sondern auch den Mythos der Neutralität. Die Neutralität ist ein Begriff aus den Zeiten, als die Machtpolitik auf der Welt dominierte und die gemeinsamen Regeln nicht existierten. In der Zwischenzeit ist eine Welt entstanden, die eigentlich nur erfolgreich sein kann, wenn es für alle Länder gemeinsame Regeln gibt. Eigentlich sollte das Einhalten der gemeinsamen Regeln für die kleineren Länder wie die Schweiz besonders wichtig sein.Doch angesichts des brutalen Bruchs der gemeinsamen Regeln durch Russland, sitzt die Schweiz (so wie Österreich) zwischen zwei Stühlen. Einerseits trägt die Schweiz die EU Sanktionen mit und unterstützt die ukrainischen Flüchtlinge, die Solidarität und Hilfebereitschaft der Schweizer Bevölkerung sind sehr gross. Andererseits diskutiert die Schweiz ewig lange über den Reexport des Schweizer Kriegsmaterials und leistet im Vergleich mit den anderen europäischen Ländern wie Norwegen, Dänemark oder der Niederlande relativ bescheidene Wirtschafts- oder Wiederaufbauhilfe an die Ukraine.
All das vor dem Hintergrund, dass die Vorzeige Humanitäre Hilfsorganisation der Schweiz – das Internationale Komitee vom Roten Kreuz – ihren Ruf eingebüsst hat, weil sie ihre Rolle gegenüber den ukrainischen Kriegsgefangenen in den besetzten Gebieten sowie in Russland sehr mangelhaft spielen konnte.
Dieses Neutralitätsspiel und die daraus resultierende Zögerlichkeit verfestigen die Wahrnehmung der Schweiz als "Sicherheits-Schmarotzer".
Die Debatte um die Neutralität mag tatsächlich sehr lange dauern, die Schweiz könnte aber ihre Wahrnehmung in Europa stark verbessern, indem sie die Ukraine beim Wiederaufbau stärker unterstützen würde. Es gibt Bereiche, wo dieser Wiederaufbau schon jetzt beginnen kann, bevor der Krieg zu Ende ist. Die Schweiz kann positiv punkten, indem sie z.B. ein Leuchtturm Wiederaufbau-Projekt lanciert, dass unter anderem den verzweifelten Ukrainern hilft, Licht am Ende des langen dunklen Tunnels zu erblicken.