Ängstliche Stimmung herrschte vor 10 Jahren in Kyjiw, gut
passend zum grässlichen Novemberwetter. Damals fürchteten viele, dass die
Ukraine durch den Verzicht auf ein Assoziierungsabkommen mit der EU ihrer
besseren Zukunft beraubt und von den dunklen Kräften aus der Vergangenheit
eingeholt würde. Die meisten Einwohner der ukrainischen Hauptstadt waren
verzweifelt und glaubten nicht mehr daran, dass etwas dagegen unternommen
werden könne. 9 Jahre nach einer Revolution, die eher als gescheitert angesehen
wurde, hatte man wenig Lust auf eine Wiederholung.
Und doch ertönte eine Stimme, die durch Facebook an Lautstärke gewonnen hatte: der prominente ukrainische Journalist afghanischer Abstammung, Mustafa Nayyem, schrieb auf seiner Facebook-Seite auf Russisch:
"Wir treffen uns um 22:30 Uhr unter dem Unabhängigkeitsdenkmal. Zieht euch warm an, nehmt Regenschirme, Tee, Kaffee, gute Laune und Freunde mit."
Dieser kurze Aufruf schaffte es, Apathie, Angst und
Misstrauen zu überwinden. Ein aktiver Teil der ukrainischen Gesellschaft traf
einen kollektiven Entschluss, die Idee einer besseren europäischen und
demokratischen Zukunft nicht aufzugeben und dafür zu kämpfen.
Auf dem Maidan-Platz in Kyjiw demonstrierte man anfangs friedlich mit Liedern, doch ohne Wirkung. Die Regierung des damaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch hätte den Protest einfach aussitzen können, beschloss dennoch, ihn ausdrücklich mit brutaler Gewalt zu unterdrücken. Dadurch löste sie breite Empörung und eine Eskalation des Protests aus.
Auf dem Maidan-Platz in Kyjiw demonstrierte man anfangs friedlich mit Liedern, doch ohne Wirkung. Die Regierung des damaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch hätte den Protest einfach aussitzen können, beschloss dennoch, ihn ausdrücklich mit brutaler Gewalt zu unterdrücken. Dadurch löste sie breite Empörung und eine Eskalation des Protests aus.
Danach verlief der Protest auf beiden Seiten wie eine
Agonie. Die Forderungen der Protestierenden waren nicht mehr nur aussenpolitisch,
sondern sie verlangten auch Gerechtigkeit. Janukowytsch antwortete jedes Mal
mit einer Verdoppelung der Gewalt. Die Protestierenden begannen, sich zu
bewaffnen, und Janukowytsch ermächtigte die Spezialkräfte zum
Schusswaffengebrauch. Als Dutzende Protestierende und einige Gendarmen im
Zentrum von Kyjiw erschossen und viele weitere verwundet wurden, brach die
Maschinerie der Gewalt von Janukowytsch zusammen: Das Blutbad in der Hauptstadt
ging selbst für die meisten Mitglieder seiner Entourage zu weit.
Janukowytsch floh aus Kyjiw und wurde durch russische Spezialeinheiten mit einem Hubschrauber nach Russland überführt. Wladimir Putin liess seine Truppen die ukrainische Halbinsel Krim besetzen und zettelte den Krieg in der Donbas-Region der Ukraine an.
In den nachfolgenden Jahren nutzte er diesen regionalen Krieg
als Hauptmittel, um die gesamte Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen. Als
dies scheiterte, legte er im Februar 2022 mit Gewalt
nochmals drastisch nach.
Heute ist offensichtlich, dass Putin sich bereits mit seiner ersten kläglichen Niederlage in der Ukraine durch die Orange Revolution von 2004 nicht abgefunden hatte und systematisch an einer Revanche arbeitete. In 2013 glaubten aber noch die meisten Ukrainer, dass Putin in der Ukraine eher seine korrupten Interessen verfolgte, als die imperialen Wahnsinnspläne.
Hätten die Ukrainer im November 2013 gewusst, dass sie schliesslich mit Putin und seiner enormen Gewaltmaschinerie direkt konfrontiert sein würden, wären sie vielleicht dem Aufruf von Mustafa Nayyem nicht gefolgt. Denn damals hatten die meisten von ihnen kaum den Mut dazu. Russland erschien als ein grosser, übermächtiger Bruder. Die starke wirtschaftliche Abhängigkeit und die gefühlte Verwandtschaft machten die meisten Ukrainer konfliktscheu.
Putin und sein Team von Spin-Doctors waren sich dessen wohl bewusst. Seine blitzkriegartige Besetzung der Krim und sein gewagter Einsatz der russischen Truppen in der Donbas im Frühjahr 2014, begleitet von frechen Lügen wie "Nas tam njet" ("Uns gibt es dort nicht"), liess die meisten Ukrainer zunächst beinahe sprachlos. Es brauchte Zeit, um die Tiefe der nationalen Erniedrigung zu realisieren, die Wut zu spüren, die Entschlossenheit zu entwickeln und die Erfahrungen zu sammeln, wie man die gepriesene "zweite Armee der Welt" schlagen kann.
Und so ist die Ukraine heute wahrscheinlich die einzige Nation auf der Welt, die keine Angst hat, gegen die Russen zu kämpfen. Es bedurfte jedoch all des Talents von Putin als Anti-Trainer über die Jahre hinweg, um die Ukrainer so selbstbewusst und mutig zu machen.
10 Jahre nach dem Ausbruch der Euromaidan Revolution hat die Ukraine sehr gute Chancen, bald offizieller EU-Beitrittskandidat zu werden. Es stellt sich nicht mehr die Frage, ob die Ukraine Teil des Westens werden muss, sondern «nur» noch wie.
Dennoch herrscht heute in Kyjiw eine ängstliche Stimmung, gut passend zum grässlichen Novemberwetter. Die Ängste sind jedoch ganz anders als vor 10 Jahren. Damals zweifelte man an sich selbst, heute zweifelt man an den Verbündeten. Damals setzte Putin darauf, dass die Ukraine gespalten, korrupt, feige und käuflich ist; heute setzt er darauf, dass der Westen gespalten, korrupt, feige und käuflich ist.
Im russischen Krieg gegen die Ukraine geht es um die Zukunft des Westens. Um diesen zu gewinnen, benötigen wir alle den ukrainischen Mut, Selbstbewusstsein sowie ein Stück des ukrainischen Idealismus.